Der Drache

Hoch durch die Lüfte fliegt der Drache. Von oben sieht alles ganz friedlich aus. So ist es auch früher gewesen. Natürlich hat sich einiges verändert. Heute gibt es viel mehr Häuser, höher sind sie geworden, wenn auch nicht schöner. Weniger Wälder und Wiesen gibt es, dafür viel mehr Straßen, bleigrau und breit, mit schier unendlich vielen Fahrzeugen, die schlecht riechen, aber hübsch bunt glänzen im Sonnenschein.

Mit den Menschen hat der Drache schon lange nichts mehr zu tun. Früher, als es Jungfrauen und Ritter zuhauf gab, da war das etwas anderes. Dass die Geschichten damals vollkommen anders weitererzählt worden sind, als sie sich in Wirklichkeit zugetragen haben, ärgert den Drachen längst nicht mehr.

Keine einzige Prinzessin oder Jungfer hat er jemals entführt und in seiner Höhle gefangen gehalten. Die Frauen haben ihn allesamt um Hilfe gebeten. Die „Entführung“ ist stets eine Rettung gewesen: vor gewalttätigen Ehemännern, giftigen Schwiegermüttern oder die sichere Aussicht auf eins von beiden. Die jungen Frauen blieben meist ein, zwei Monate in der Drachenhöhle, hielten sich versteckt und machten sich dann auf, um als eine andere ihr Glück zu versuchen. Ihre Familien hatten bis dahin üblicherweise einen Ersatz gefunden und vermissten sie nicht weiter.

Ach, und die Ritter, die angeblich unter Einsatz ihres Lebens gegen den Drachen kämpften, um die Jungfern zu retten… Ein Riesenspaß war es, mit diesen Burschen freundschaftlich Kräfte zu messen. Zu Schaden kam dabei keiner – weder die jungen Männer noch der Drache.

Manchmal kam es vor, dass sich eine „Entführte“ und ein „Retter“ tatsächlich ineinander verliebten und zusammentaten, um ein neues Leben zu beginnen. Den Drachen hat dies immer gerührt und sein Herz lachen lassen. Ja, die alten Zeiten sind nicht die schlechtesten gewesen…

Etwas weniger elegant als früher, aber immer noch kraftvoll und präzise landet der Drache vor seiner Höhle, die so abgelegen ist, dass kaum jemals ein Mensch daran vorüber geht. Der Drache kann sich nicht erinnern, wann ihn zuletzt der Hilferuf einer Jungfrau erreicht hat. Und junge Männer, die sich im Wettkampf üben wollen, scheint es auch nicht mehr zu geben.

Nun gut, denkt der Drache und trottet in seine Höhle. Wenn es so ist, dann ist es eben so. Anscheinend braucht niemand mehr Hilfe in der Welt. Die Menschen können sich inzwischen um sich selbst kümmern. Gut so!

Der Drache kauert sich in seine Schlafecke, gähnt herzhaft, schließt die Augen und fliegt im Traum hoch über die Welt, die von oben so friedlich aussieht.

2 Antworten zu “Der Drache

  1. schön! 🙂

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