Die Lichtung

Gelb, braun und golden leuchtet das Laub. Die Herbstluft ist klar. Die Spätnachmittagssonne fällt mild auf den großen Stein am Rand der Lichtung. Flach und quaderförmig ist der Stein, an seinen Seiten und Rändern wächst Moos, aber oben, dort wo sie immer sitzt, ist er glatt. Schon als kleines Kind ist sie oft hierhergekommen und in den letzten Monaten immer häufiger. Altar nennt sie den Stein, aber das verrät sie niemandem. Der Altar gehört nur ihr, der Altar und die kleine Lichtung im Wald, gar nicht weit weg von dem Haus, in dem sie wohnt. Es „zu Hause“ zu nennen, fällt ihr immer schwerer. Zu viel Streiterei und Geschrei, gefolgt von eisigem Schweigen.

Mit angezogenen Beinen sitzt sie auf dem Altar, streichelt über das Moos, als wäre es das glänzende Fell der Katze, die sie sich letztes Jahr gewünscht hat. Nur Dreck und Arbeit würde die machen, hatte ihre Mutter gesagt. Und Kastrieren lassen müsste man die, für solchen Quatsch hätten sie kein Geld. Ihr Vater hatte der Mutter ausnahmsweise zugestimmt. Ihr großer Bruder hatte sie schadenfroh ausgelacht. Seitdem hat sie sich nichts mehr von den Eltern gewünscht.

Die Worte des Streits ihrer Eltern von vorhin hallen in ihrem Kopf nach. Sie ist von der Schule heimgekommen, hat die Haustür kaum einen Spalt geöffnet und sie schon gehört. Ein widerlicher Säufer bist du, hat die Mutter geschrien. Der Vater: Du zickige Kuh, da kannst du deinem Hühnerhaufen wieder vorjammern, was für ein Versager dein Mann ist! Sie hat die Tür von außen wieder zugezogen und ist in den Wald gegangen, zu ihrer Lichtung, ihrem Stein.

Hier ist es still, so wunderbar still. Irgendwo zwitschert ein Vogel, vielleicht ein Fink, und das Herbstlaub in den Wipfeln flüstert ihr zu: hier bist du sicher. Die Sonne steht schon tief und langsam wird ihr kalt. Bald wird sie gehen müssen. Aber noch nicht gleich. Sie will so lange bleiben wie nur möglich.

Nur wenige Meter entfernt, im dichten Unterholz, dort, wo das Mädchen es nicht sehen kann, kauert ein Geschöpf. Behaart ist es, am ganzen Körper, und von wölfischer Gestalt. Seine Augen glühen feuerrot und es beobachtet das Mädchen mit jeder Faser seines Körpers. Je tiefer die Sonne sinkt, umso stärker steigt sein Jagdfieber. Nur noch wenige Augenblicke, dann wird es sich zum Sprung bereit machen.

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