Archiv der Kategorie: Gedanken aus der Besteckschublade

Malerei der Woche (09/2022)

Seit dem 24. Februar pendelt meine Gefühlslage zwischen Schockstarre, Angst, Wut und Verdrängung. Meine Großeltern kommen mir in den Sinn, die den Zweiten Weltkrieg als Kinder oder junge Erwachsene erlebt haben. Ich denke daran, dass meine Großmutter väterlicherseits in schweren Zeiten Trost und Beistand bei der Heiligen Maria gefunden hat, dass Maria meiner Großmutter Hoffnung und Kraft gegeben hat.

Wahrscheinlich empfinden sehr viele Menschen wie meine Großmutter und darin liegt wohl der Grund, dass die Madonna eines der häufigsten Bildmotive ist – nicht nur, aber auch in der Renaissance.

Giovanni Bellini – Madonna auf der Wiese

Erinnerungsbelebung

Normalerweise arbeite ich in einem Büro. In einem Großraumbüro, mit Kolleginnen und Kollegen, die ich mag und schätze. Wir gehen oft gemeinsam Mittagessen oder plaudern kurz in der Kaffeeküche. Seit Mitte März arbeite ich zu Hause, glücklicherweise in einem ruhigen, schönen Zimmer und die Technik tut. Zudem bin ich in vielen online-Meetings mit den Kollegen, der Kontakt besteht also fort.

Mein bisher gewohntes soziales Arbeitsumfeld vermisse ich trotzdem. Allerdings habe ich – intuitiv, ohne konkreten Plan – einige Sachen in mein Home Office integriert, die mich an frühere Gegebenheiten und Lebensabschnitte erinnern.

Notizen mache ich mit Bleistift und Markierungen mit Buntstift – das war zuletzt im Studium so. Nach langer Zeit im Schrank benutze ich wieder regelmäßig die Tasse des Forschungsprojekts, in dem ich vor 20 Jahren als HiWi gearbeitet habe. Der Untersetzer für die Tasse kommt aus Polen, das Geschenk einer polnischen Kollegin aus einem früheren Job – der Untersetzer harrte die letzten Jahre in der dunklen Schublade aus. Und weil ich während der Arbeit weder Jogginghose noch meine schicke Kleidung tragen will, kommen nun Klamotten wieder zum Zug, die eher hinten im Schrank lagen. So zum Beispiel eine braune Cordhose, die ich 2005 oder 2006 gekauft habe. Die sitzt um die Hüften zwar enger als früher, aber sie passt noch!

Mein Geist ist erfreut, mein Herz gewärmt! Das „neue Normal“ ist also nicht nur schlecht.

Ein Moment in Cilaos

Zwölf Jahre ist es her. Verloren fühlte ich mich; einsam, allein, nicht unglücklich, aber ruhelos und ohne Ziel. Auf der Suche nach mir selbst flog ich weit in den Süden, auf eine kleine Insel im Indischen Ozean, La Réunion, zu Frankreich gehörend.

Mit dem Mietwagen bereiste ich die Insel auf einer vorgeplanten Route, jeden Tag eine andere Station. Die dritte oder vierte Etappe brachte mich nach Cilaos, einen Ort im Inselinneren, in einem sattgrünen Talkessel gelegen. Mir schien es, als verginge die Zeit dort langsamer als anderswo. Die Luft war feucht und warm, aber weniger drückend als an der Küste. Von den Berggipfeln senkten sich Wolken hinab und ich glaubte fast, sie berühren zu können. Sehr viel gab es im Ort nicht zu sehen. Eine modern gebaute Kirche, einige der typischen kreolischen Häuser, ein, zwei Restaurants, ein, zwei kleine Läden. In einen ging ich hinein; dort gab es Tee, Kräuter, Räucherstäbchen. Sicher duftete es nach Vanille, Bourbon-Vanille, früher ein wichtiges Exportgut.

Ich kann mich nicht erinnern, ob ich ihn sofort nach dem Betreten des Ladens gesehen habe oder erst, nachdem ich mich ein wenig umgeschaut hatte. Aber als sich unsere Blicke trafen, wurde mir heiß, mein Herz schlug schnell, ganz schnell, und die Zeit stand für einen winzigen Moment lang still. Und auch, wenn ich es nicht wirklich wissen kann, so bin ich mir ganz sicher, dass es ihm genauso ging. Er stand hinter der Ladentheke aus Holz und fragte freundlich, ob er helfen könne. Ich verneinte ebenso freundlich und bemühte mich sehr, mich auf die Waren in den Regalen zu konzentrieren. Dabei hätte ich lieber nur ihn angeschaut. Ich denke, er war ein paar Jahre jünger als ich damals, etwa Ende Zwanzig. Sein hellbraunes Haar ein wenig zerzaust, wie sein Bart. An seine Augenfarbe erinnere ich mich nicht, aber sein Blick war offen und sanft.

Natürlich kaufte ich etwas, bestimmt etwas mit Vanille; ich weiß nicht mehr, was. Beim Bezahlen fragte er mich, woher ich käme und ob es mir hier gefalle. Wahrscheinlich antwortete ich auf Englisch, denn mein Französisch war auch damals schon ziemlich eingerostet. Dann erzählte er, dass er mit guten Freunden außerhalb des Ortes auf einer Art Farm lebe und dass an diesem Abend weitere Freunde zu einem kleinen Fest kämen. Wenn ich wolle, sei ich herzlich willkommen. Er beschrieb mir den Weg und ich glaube, er notierte die Adresse auf einem Blatt Papier. Ich bedankte mich und sagte, ich würde es mir überlegen.

Nichts wünschte ich mir in diesem Augenblick sehnlicher, als den Abend und vielleicht auch die Nacht mit diesem Mann zu verbringen. Ich stellte mir gar vor, wie wir gemeinsam in der Farm-Kommune leben, Süßkartoffeln anbauen und auf ewig glücklich sind – und doch wusste ich, dass ich an diesem Abend in meinem Hotel bleiben, früh zu Bett gehen und am Morgen darauf zu meiner nächsten Etappe aufbrechen würde.

Und so war es auch. Kurz danach dachte ich sehr oft an diese Begegnung, im Lauf der Zeit dann immer seltener. Ab und zu erinnere ich mich heute noch an diesen Moment, diesen magischen Moment, in dem ich in den sanften, bärtigen jungen Mann im Teeladen in Cilaos verliebt gewesen bin.

Man kommt nicht als Frau zur Welt

Ich glaube nicht daran, dass Menschen aufgrund ihres Geschlechts von Geburt an für bestimmte Domänen oder Disziplinen besser oder schlechter geeignet sind.

Nicht alle Männer können besser programmieren als Frauen.
Nicht alle Frauen können besser kommunizieren als Männer.

„Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“ Das Schlüsselzitat aus Simone de Beauvoirs Werk „Das andere Geschlecht“ bringt es für mich auf den Punkt.

Ich will in einer Gesellschaft leben, in der Chancengleichheit eines der allerwichtigsten Ziele ist. Dazu gehört auch, dass Kinder vornehmlich Kinder sind – und nicht Mädchen (die sich nicht schmutzig machen und herumtoben dürfen) oder Jungen (die nicht weinen und mit Puppen spielen dürfen).

Das ist mein Wort zum heutigen Weltfrauentag.

Zum Staunen

Die Auswirkungen der Zentrifugalkraft auf das menschliche Denkvermögen untersucht das Institute for Centrifugal Research in Florida. Dr. Nick Laslowicz präsentiert anschaulich die erstaunlichen Ergebnisse der Forschung. Bei mir hat es über zwei Minuten gedauert, bis ich… aber seht selbst!

Das Video ist übrigens Teil einer hervorragenden Ausstellung der Kunsthalle München. Nur noch bis zum 13.01.2019.

Auch dieses Video ist in der Ausstellung zu sehen:

Man mag darüber streiten, wie authentisch die Kampagne des Kosmetikherstellers ist. Unbestritten ist, wie allgegenwärtig vollkommen unrealistische Schönheitsideale sind. Menschenfeindlich und potentiell gefährlich. Leute, die sich so etwas ausdenken, waren wahrscheinlich zu oft im Wedding Cake oder Steam Pressure Catapult unterwegs…

Elif Shafak: The revolutionary power of diverse thought

Populisten mögen keinen Pluralismus; mit Vielfältigkeit und Uneindeutigkeit können sie nicht umgehen. Stattdessen bestehen sie auf einfache Antworten, reduzieren auf Dualismen, teilen die Welt in zwei Lager: Wir und Die. Und oft: Wir gegen Die. Ängste, Neid und Misstrauen werden geschürt: Nur unter uns sind wir sicher!

Die türkische Schriftstellerin Elif Shafak sieht darin ein Zeichen unserer Zeit; in der Politik, aber auch in der Wissenschaft und Gesellschaften weltweit. In ihrem klugen TED Talk plädiert sie dafür, Komplexität nicht zu fürchten, sondern als Tor zu mehr Solidarität, Reichhaltigkeit und Freiheit für uns alle zu verstehen.

Vielfältig geht es auch in Shafaks Roman „Der Bonbonpalast“ aus dem Jahr 2002 zu. Der Bonbonpalast ist ein etwas heruntergekommenes Wohnhaus in Istanbul, in dem die unterschiedlichsten Bewohner zu Hause sind. Leichtfüßig und liebevoll schreibt Shafak, mit leuchtenden Farben, die ihr Licht in die Tiefe und auch Abgründe werfen.

Deutschunterricht

Manchmal geht ein Samenkorn erst Jahre später auf, nachdem es still unter der Erde ausgeharrt hat. Und wenn die Pflanze ihre Blüten entfaltet, erinnerst du dich lächelnd an den Moment des Säens.

Wortkonstellationen – inspiriert von Eugen Gomringers „avenidas“

Sexistische Anklänge konnte ich in Eugen Gomringers Gedicht „avenidas“ nicht entdecken, als ich es vorletztes Jahr in der Sommerschreibwerkstatt als formale Inspiration zu eigener Konkreter Poesie erhielt. Und ich kann es auch jetzt nicht, trotz der aktuellen Aufregung. Es freut mich, dass „avenidas“ nun wohl einen neuen Platz in Gomringers Heimatort Rehau bekommen wird.

Hier sind meine Wortkonstellationen, inspiriert von „avenidas“.

Krankheit
Krankheit
Krankheit und Hoffen

Hoffen
Hoffen und Wissen

Krankheit
Krankheit und Wissen

Krankheit und Hoffen und Wissen und
Abschied

 

Umziehen
Umziehen
Umziehen ist Veränderung

Veränderung
Veränderung ist Anstrengung

Umziehen
Umziehen ist Anstrengung

Umziehen ist Veränderung ist Anstrengung ist
ein Neuanfang

Gießen unerwünscht

Neulich im Büro…

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In Liebe, ewiglich

Der Erste starb schon nach vier Wochen. Der Zweite hielt sich nur wenig länger. Den Dritten kauften wir dann nicht mehr in der Zoohandlung, sondern beim Züchter.

Alle hatten denselben Namen, der einzige Name, der für mich damals in Frage kam, denn der Wellensittich meiner Großeltern hieß ebenso: Jocki. Mein Jocki hatte allerdings blaues Gefieder, der meiner Großeltern war grün.

Ich liebte Jocki und Jocki liebte mich.

Wenn meine Mutter und ich um die Mittagszeit nach Hause kamen, erkannte Jocki das Motorengeräusch unseres Autos und wir konnten ihn auf dem Weg von der Garage zur Haustür durch das geschlossene Fenster freudig aufgeregt pfeifen hören. Jocki schaute interessiert zu, wie ich meine Grundschulhausaufgaben am Küchentisch erledigte und freute sich, wenn ich zwischendurch mit ihm redete und ihm meinen Zeigefinger zum Knabbern an die Gitterstäbe seines Käfigs hielt.

Als ich in der sechsten Klasse ins Schullandheim fuhr, verfiel Jocki anscheinend in Trauer. Er sang nicht und er fraß nicht. Meine Eltern waren in Sorge. Als ich nach einer Woche zurückkam, dauerte es mehrere Tage, bis Jocki sich erholte. Vielleicht war er beleidigt, vielleicht fürchtete er, dass ich wieder weggehen könnte, wer weiß, aber bald war er wieder der Alte.

Neben dem üblichen Vogelfutter mochte Jocki Salatblätter, Gurkenscheiben und Apfelstücke, aber am tollsten fand er Bananen. Sobald mein Vater eine Banane nur in die Hand nahm, wurde das Vögelchen ganz wild. Hüpfte im Käfig herum, pfiff schrill und noch lauter als sonst. Jocki wurde erst wieder ruhig, wenn ein Stückchen Banane zwischen die Gitterstäbe gequetscht wurde. Gefressen hat er die Bananen nicht, am nächsten Tag konnten wir das vertrocknete Stück wegnehmen, ohne dass es Jocki sonderlich interessiert hätte. Tja, auch Wellensittiche können seltsam sein.

Als ich älter wurde und mehr Zeit bei Freunden oder allein in meinem Zimmer verbrachte, blieb die Liebe ungebrochen, aber Jocki und ich gewannen etwas Abstand.

Kurz nach meinem Abitur, ich wohnte noch zu Hause, da merkten wir, dass Jocki alt wurde. Er sang weniger, er flog nur noch kurz und hüpfte kaum mehr im Käfig herum. An seinem letzten Abend saß er still am Boden seines Käfigs und schaute mich müde an. Am nächsten Morgen fanden wir ihn tot. Ich weinte, meine Mutter auch; aber wir waren auch glücklich, dass unser kleiner Jocki über 13 Jahre mit uns verbracht hatte.

Zusammen mit seinem Lieblingsspielzeug, einem runden Spiegel mit Bimmelglöckchen und seiner Vogelschaukel, legte ich ihn vorsichtig in einen Schuhkarton und wir begruben ihn im Garten. Auf sein kleines Grab legten wir ein paar Blümchen.

Und noch heute, wenn ich meine Eltern besuche, glaube ich manchmal, Jockis Pfeifen zu hören, das mich fröhlich begrüßt.