Archiv der Kategorie: Lyrik der Woche

Lyrik der Woche (52/2019)

Heute vor 140 Jahren, am 28.12.1879, stürzte der Schnellzug von Edinburgh nach Dundee in den Firth-of-Tay, als der Mittelteil der Firth-of-Tay-Brücke unter dem Gewicht des Zuges und der Windlast eines Orkans nachgab und zusammenbrach. 75 Menschen kamen ums Leben.

Theodor Fontane verarbeitete das Unglück in seiner Ballade „Die Brück‘ am Tay“. Drei Hexen verabreden sich zu Beginn…

„Wann treffen wir drei wieder zusamm‘?“
„Um die siebente Stund‘, am Brückendamm.“
„Am Mittelpfeiler.“
„Ich lösch die Flamm‘.“
„Ich mit.“
„Ich komme vom Norden her.“
„Und ich vom Süden.“
„Und ich vom Meer.“

„Hei, das gibt ein Ringelreihn,
und die Brücke muß in den Grund hinein.“
„Und der Zug, der in die Brücke tritt
um die siebente Stund‘?“
„Ei, der muß mit.“
„Muß mit.“
„Tand, Tand
ist das Gebilde von Menschenhand.“

Lyrik der Woche (51/2019)

Im Advent bereiten sich die Christen auf die Ankunft des Herrn Jesu vor. Kaum jemand erwartet, dass er tatsächlich persönlich bei ihnen zu Hause erscheint. Doch zu Otto Jägersberg kommt er.

Herr Jesu

Am Heiligen Abend
laden wir einen Nachbarn
den das Jahr über
unauffällig lebenden
Herrn Jesu
zum Festmahl

Ein bescheidener Esser
trinkt grad
drei Schlückchen Wein
redet dafür aber
flaschenweis

Begebenheiten
aus einem langen
Streunerleben
mit naiven Schlussfolgerungen
für die Kinder
ganz lehrreich

Bevor er
richtig loslegt
wider Besitz und Handel
übers Familienleben herzieht
und die Anarchie verherrlicht
drehn wir den Kindern
die Weihnachtssendung
im Fernsehen an

Wir gönnen
dem einsamen Mann
seine Reden
einmal im Jahr

Weil er kein Ende findet
machen wir noch mal den Baum an
er singt zwar nicht mit
wir denken
es rührt ihn
doch

Lyrik der Woche (50/2019)

In der Vorweihnachtszeit wird viel von Liebe geredet. In der Unterhaltungsmusik ist Liebe jahreszeitenunabhängig der Renner. Was diese Liebe nun genau ist und wie sie sich äußert, unterliegt der individuellen Auffassung; zudem gibt es natürlich verschiedene Arten von Liebe.

Mein eigenes Verständnis von Liebe wurde von Stings „If You Love Somebody Set Them Free“ geprägt: Liebe hat nichts mit klammerndem Festhalten und Verschließen zu tun, sondern mit Freiheit der Wahl und Eigenständigkeit im Zusammensein. Es hat jedoch Jahre gedauert, bis ich zu dieser meiner persönlichen Einsicht gelangt bin…

If you need somebody, call my name
If you want someone, you can do the same
If you want to keep something precious
You got to lock it up and throw away the key
If you want to hold onto your possession
Don’t even think about me

If you love somebody
If you love someone
If you love somebody
If you love someone set them free
(Free, free, set them free)
Set them free
(Free, free, set them free)
Set them free
(Free, free, set them free)
Set them free
(Free, free, set them free)

Lyrik der Woche (49/2019)

Die Lyrik der Woche kommt ohne Großbuchstaben und mit nur einem Vokal aus: „ottos mops“ von Ernst Jandl.

Dieses Gedicht spielt eine Rolle im ersten Roman meiner hochgeschätzten Freundin Andie Arndt „Im Schatten der Welle“. Eine spannende Geschichte über die Suche nach Antworten und innerem Frieden.

ottos mops

ottos mops trotzt
otto: fort mops fort
ottos mops hopst fort
otto: soso

otto holt koks
otto holt obst
otto horcht
otto: mops mops
otto hofft

ottos mops klopft
otto: komm mops komm
ottos mops kommt
ottos mops kotzt
otto: ogottogott

Lyrik der Woche (48/2019)

Das neue Nürnberger Christkind Benigna Munsi hat gestern Abend strahlend den Christkindlesmarkt eröffnet, und zwar mit diesen Worten.

Ihr Herrn und Frau’n, die Ihr einst Kinder wart, Ihr Kleinen, am Beginn der Lebensfahrt, ein jeder, der sich heute freut und morgen wieder plagt: Hört alle zu, was Euch das Christkind sagt!

In jedem Jahr, vier Wochen vor der Zeit, da man den Christbaum schmückt und sich aufs Feiern freut, ersteht auf diesem Platz, der Ahn hat’s schon gekannt, was Ihr hier seht, Christkindlesmarkt genannt.

Dies Städtlein in der Stadt, aus Holz und Tuch gemacht, so flüchtig, wie es scheint, in seiner kurzen Pracht, ist doch von Ewigkeit. Mein Markt bleibt immer jung, solang’ es Nürnberg gibt und die Erinnerung.

Denn alt und jung zugleich ist Nürnbergs Angesicht, das viele Züge trägt. Ihr zählt sie alle nicht! Da ist der edle Platz. Doch ihm sind zugesellt Hochhäuser dieses Tags, Fabriken dieser Welt.

Die neue Stadt im Grün. Und doch bleibt’s alle Zeit, Ihr Herrn und Frau’n: das Nürnberg, das Ihr seid. Am Saum des Jahres steht nun bald der Tag, an dem man selbst sich wünschen und andern schenken mag.

Doch leuchtet der Markt im Licht weit und breit, Schmuck, Kugeln und selige Weihnachtszeit, dann vergesst nicht, Ihr Herrn und Frau’n, und bedenkt, wer alles schon hat, der braucht nichts geschenkt.

Die Kinder der Welt und die armen Leut’, die wissen am besten, was Schenken bedeut’. Ihr Herrn und Frau’n, die Ihr einst Kinder wart, seid es heut’ wieder, freut Euch in ihrer Art. Das Christkind lädt zu seinem Markte ein, und wer da kommt, der soll willkommen sein.

Ein strahlendes Nürnberger Christkind

Lyrik der Woche (47/2019)

Christian Morgenstern kennt nicht nur Spatzen, sondern auch andere spezielle Tiere…

Das æsthetische Wiesel

Ein Wiesel
saß auf einem Kiesel
inmitten Bachgeriesel.

Wisst ihr
weshalb?

Das Mondkalb
verriet es mir
im Stillen:

Das raffinier-
te Tier
tat’s um des Reimes willen.

Lyrik der Woche (46/2019)

Es wird langsam kälter, nicht wahr? Die Spatzen plustern sich auf, bis sie aussehen wie fedrige Christbaumkugeln. Aber nicht nur das! Christian Morgenstern weiß noch mehr zu berichten.

Die drei Spatzen

In einem leeren Haselstrauch,
da sitzen drei Spatzen, Bauch an Bauch.

Der Erich rechts und links der Franz
und mitten drin der freche Hans.

Sie haben die Augen zu, ganz zu,
und obendrüber da schneit es, hu!

Sie rücken zusammen dicht an dicht,
so warm wie der Hans hats niemand nicht.

Sie hören alle drei ihrer Herzlein Gepoch.
Und wenn sie nicht weg sind, so sitzen sie noch.

Lyrik der Woche (45/2019)

Die dunkle Jahreszeit ist da. Und auch hier und dort. Sogar in der Heide! Von Theodor Storm.

Über die Heide

Über die Heide hallet mein Schritt;
Dumpf aus der Erde wandert es mit.

Herbst ist gekommen, Frühling ist weit –
Gab es denn einmal selige Zeit?

Brauende Nebel geisten umher;
Schwarz ist das Kraut und der Himmel so leer.

Wär ich hier nur nicht gegangen im Mai!
Leben und Liebe – wie flog es vorbei!

Lyrik der Woche (44/2019)

Die keltische Mythologie nimmt an, dass die Menschen an Halloween einen Zugang zu den Wesen der Anderwelt haben. Von einer Begegnung mit Wesen aus einem anderen Reich erzählt auch Goethes Erlkönig.

Erlkönig

Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind;
er hat den Knaben wohl in dem Arm,
er fasst ihn sicher, er hält ihn warm.

Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? –
Siehst Vater, du den Erlkönig nicht?
Den Erlenkönig mit Kron‘ und Schweif? –
Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif.

„Du liebes Kind, komm, geh mit mir!
Gar schöne Spiele spiel‘ ich mit dir;
manch bunte Blumen sind an dem Strand,
meine Mutter hat manch gülden Gewand.“

Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,
was Erlenkönig mir leise verspricht? –
Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind:
In dürren Blättern säuselt der Wind.

„Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn?
Meine Töchter sollen dich warten schön;
meine Töchter führen den nächtlichen Reihn,
und wiegen und tanzen und singen dich ein.“

Mein Vater, mein Vater und siehst du nicht dort
Erlkönigs Töchter am düstern Ort? –
Mein Sohn, mein Sohn, ich seh‘ es genau:
Es scheinen die alten Weiden so grau.

„Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt;
und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.“
Mein Vater, mein Vater, jetzt fasst er mich an!
Erlkönig hat mir ein Leids getan! –

Dem Vater grauset’s, er reitet geschwind,
er hält in Armen das ächzende Kind,
erreicht den Hof mit Mühe und Not;
in seinen Armen das Kind war tot.

Lyrik der Woche (43/2019)

Was braucht man eigentlich so zum Leben? Hier ist Friederike Mayröckers Antwort darauf.

was brauchst du

was brauchst du? einen Baum ein Haus zu
ermessen wie groß wie klein das Leben als Mensch
wie groß wie klein wenn du aufblickst zur Krone
dich verlierst in grüner üppiger Schönheit
wie groß wie klein bedenkst du wie kurz
dein Leben vergleichst du es mit dem Leben der Bäume
du brauchst einen Baum du brauchst ein Haus
keines für dich allein nur einen Winkel ein Dach
zu sitzen zu denken zu schlafen zu träumen
zu schreiben zu schweigen zu sehen den Freund
die Gestirne das Gras die Blume den Himmel