Wiedersehen

Seit ein paar Minuten steht sie schräg gegenüber von seinem Haus auf der anderen Straßenseite. Gleich wird er kommen. Sie sieht auf die Uhr, zwölf vor acht. Es ist schon dämmrig, der Sommer endgültig vorbei. Gut, dass es nicht mehr ganz hell ist, denkt sie. Die Tür öffnet sich und er kommt mit seiner gelben Sporttasche über der Schulter heraus. Langsam schließt sich die Haustür hinter ihm. Der Boden im Hausgang ist gefliest und das Treppengeländer aus Holz, die weiße Lackierung schon ein wenig abgegriffen. Daran kann sie sich erinnern. 

Er geht die paar Schritte durch den kleinen Vorgarten zur Straße. Auch sie setzt sich in Bewegung. Sie erreicht ihn, als er schon fast bei seinem Auto ist, das wie immer vor dem Haus geparkt ist. Hallo, sagt sie. Überrascht dreht er sich um. Er hatte nicht bemerkt, dass jemand auf ihn zugekommen ist. Er sieht sie an, erkennt sie jedoch nicht gleich. Als er wieder weiß, wer sie ist, wirkt er verunsichert. Einen Moment später setzt er ein Lächeln auf und sagt auch: Hallo. Sie sieht ihn nur an. Die Stille ist ihm unangenehm und er sagt: Lang nicht mehr gesehen, und: Wie geht’s? Sie antwortet nicht, sieht ihn nur weiter an. Er weicht ihrem Blick aus. Ich muss dann los, vielleicht sieht man sich ja mal wieder, sagt er. Er greift nach seinem Autoschlüssel in der Hosentasche. Währenddessen holt sie das Messer unter ihrem weiten Pulli hervor. Ein teures Küchenmesser mit glänzender Klinge, das sie von ihrer Tante geschenkt bekommen hat. Es ist fast unbenützt, sie kocht nur selten. 

Sie macht einen kleinen Schritt auf ihn zu und steht dann direkt vor ihm. Sie zögert nicht, als sie das Messer in ihn hinein stößt. Es durchdringt ohne merklichen Widerstand Kleidung und Haut und gleitet tief in seinen Bauch hinein. Seine Augen werden seltsam groß. Er öffnet den Mund, als wolle er etwas sagen, doch es kommt nur ein leises Stöhnen heraus. Sein warmes Blut läuft über ihre Hand, als sie das Messer aus ihm herauszieht. Sie dreht die Klinge um 90 Grad, bevor sie zum zweiten Mal zusticht. Sie hatte damit gerechnet, dass er sich wehren würde, dass er versuchen würde, sie von sich zu stoßen, doch seine Arme hängen einfach nur schlaff herunter. Sein Mund ist immer noch offen, aber es kommt kein Ton mehr heraus. Endlich suchen seine Augen die ihren. Ihr Blick bleibt fest. Sein Blick verliert den Fokus. Er beginnt leicht zu wanken. Er wird wohl nicht mehr lange stehen können. Sie zieht das Messer aus ihm heraus. Mit der anderen Hand berührt sie sanft seine Wange. Dann steckt sie das Messer zum letzten Mal in ihn hinein und flüstert ihm dabei ins Ohr: Alles in Ordnung, Baby, du willst es doch auch.

5 Antworten zu “Wiedersehen

  1. Ab sofort werde ich besonders vorsichtig sein wenn Du einen weiten Pulli trägst. 😉

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  2. Mein lieber Herr Gesangsverein!

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  3. Wow, dein erster Mord, da bin ich ja mal gespannt was du uns als nächstes präsentierst…

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  4. Na was wohl? Als nächstes präsentiert sie uns die Leichen. 😉

    Ich bin auf jeden Fall gespannt auf weitere Morde. Nur weiter so! Es darf aber auch sehr gerne in Richtung Mystery gehen. 🙂

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  5. Sehr aufschlussreiches Ende. Das Morden ging ja sehr leicht, ich zähl mal lieber die Küchenmesser nach. ;o)

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