Liebesmüh

Siebzehn, Achtzehn, Neunzehn. Genug. Neunzehn Tropfen Holunderblut standen im Rezept. Guillaume wischte sich die Hand, mit der er die überreifen Holunderbeeren ausgequetscht hatte, an einem fleckigen Tuch ab. Was fehlte noch? Guillaume warf einen Blick auf den unscheinbaren Zettel, auf den die alte Wahrsagerin die Zutaten und Zubereitung des Liebestrankes geschrieben hatte. „Madame Rubina, die Große“ hatte auf ihrem Zelt gestanden, in dem sie zusammen mit einem kleinen Zirkus letzte Woche in den Ort gekommen war.

Es fehlten nur noch drei Haare aus dem Schnurrbart eines glatzköpfigen Junggesellen. Für Guillaume, den ersten Friseur am Platz, war es ein Leichtes gewesen, an diese Zutat zu kommen. Seit über zwanzig Jahren kam Monsieur Pommier in Guillaumes Laden. Verheiratet war Monsieur Pommier nie gewesen und im Lauf der Jahre war sein Haupthaar entschwunden. Sein dunkler Schnauzer jedoch spross kräftiger denn je und so ließ er ihn jeden zweiten Tag von Guillaume stutzen.

Zitterhändig steckte Guillaume die Barthaare in das Fläschchen aus braunem Glas, verschloss es fest mit einem Korken und schüttelte kräftig. Dabei drehte er sich gegen den Uhrzeigersinn um sich selbst und zählte bis Einundfünfzig, aber nur die ungeraden Zahlen. Danach hielt er das Fläschchen fest in beiden Händen und flüsterte den Zauberspruch von Madame Rubina: „Soll die Liebe ewig brennen, musst du nur den Funken kennen. Zur Flamme wird der Funken, sobald das Fläschchen ausgetrunken.“

Guillaume sah Marie vor sich, wie sie das Fläschchen genussvoll leerte und ihn danach voller Begehren ansah. „Meine Schöne, meine Schönste, Schönste im Dorf, Schönste im ganzen Land“, murmelte Guillaume. Mit flattrigen Händen wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Traumversunken wollte er gerade die Öllampe löschen, da öffnete sich langsam die Tür zu der Kammer, in der Guillaume saß und die sich hinten im Friseurladen befand.

„Monsieur Guillaume?“, fragte eine zarte Stimme.

Guillaume erschrak und verbarg das Fläschchen hinter seinem Rücken. Die Tür ging ein Stück weiter auf. Der zarten Stimme folgte ein ebenso zartes Gesicht, aus dem seegrüne Augen leuchteten.

„Monsieur Guillaume, der Laden ist sauber. Ich habe gekehrt und geputzt. Auch Ihre Scheren und Kämme.“

„Marie, Sie sind ein Schatz.“

Marie lächelte schüchtern. Guillaume sah sie vor sich, mit offenem krauslockigen Haar, wie sie barfuß durch eine Sommerwiese lief. Wie sehr er sich wünschte, ihren Nacken zu kraulen!

„Marie, Sie sind bestimmt durstig nach der vielen Arbeit! Möchten Sie ein Glas Wein? Ich nehme auch eines.“

Marie errötete. „Oh, Monsieur Guillaume, das würde sich nicht schicken. Sie und ich… Nein, das geht nicht.“

Guillaume spürte einen kleinen Stich. Marie zögerte, setzte an, noch etwas zu sagen.

Guillaume ermunterte sie: „Ja, Marie?“

„Monsieur Guillaume, ich wollte es Ihnen schon längst gesagt haben, aber mir fehlte der Mut.“

Hoffnung keimte in Guillaume: „Ja?“

„Ich… Ich werde hier nicht mehr arbeiten können. Morgen ist mein letzter Tag. Mein Verlobter… Wir werden bald heiraten, sehr bald schon… Er sagt, es gehört sich nicht für seine Braut, bei einem Friseur zu arbeiten… Es tut mir aufrichtig leid! Sie müssen sich jemand anderen suchen.“

Bevor Guillaume antworten konnte, war Marie schon davon gelaufen. Er blieb zurück, mit dem Zaubertrank in Händen und einem brennenden Stachel im Herzen. Guillaume hielt seine Tränen nicht zurück.

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