Eine Königsgeschichte

Vor langer Zeit begab es sich, dass der alte König starb. Streng, aber gerecht hatte er sein Land regiert. Sein Sohn, der ihm auf den Thron folgte, war einfältig und faul. Das Denken überließ er seinen Beratern. Doch wenn ihm jemand widersprach, so geriet er in große Wut und ließ den Unglückseligen ins Gefängnis werfen oder gleich zum Galgen führen.

So herrschten bald nur noch Angst und Schrecken im Königreich und niemand wagte mehr, seine Meinung zu sagen. Einer der Königsberater, ein junger Edelmann, traf einen Entschluss. Tief in den Wald ging er, immer weiter, bis zur Höhle, in der die weise Hexe wohnte. Auch sie hatte vom Unglück gehört, das der neue König über das Land gebracht hatte. Der junge Edelmann erbat der Hexe Beistand. Er selbst wolle König werden. Alle Untertanen werde er dann geduldig anhören und Entscheidungen mit Bedacht treffen. Gnädig und großzügig werde er regieren. Die Hexe besah sich den Edelman lange und überlegte, ob er denn ehrlich sei und seine Worte ernst meinte. Schließlich sagte sie ihre Hilfe zu.

Im Gewande eines Dienstmädchens schlich die Hexe eines Nachts ins Schlafgemach des Königs. Mit einem Messerstich ins Herz tötete sie ihn und sammelte sein Blut in einem Kelch. Sie sprach einen Zauberspruch darüber und gab dem jungen Edelmann, der vor der Tür des Schlafgemachs gewacht hatte, davon zu trinken. Sogleich nahm der Edelmann die Gestalt des Königs an und der tote König die des Edelmanns. Die Hexe versteckte sich hinter einem Vorhang. Der Edelmann, der nun das Antlitz des Königs trug, rief seine Wachen herbei. Er behauptete, der Edelmann habe versucht, ihn, den König, im Schlaf zu erstechen. Er habe den Angreifer überwältigen und töten können. Die Wachen zweifelten nicht an den Worten ihres Königs und brachten den Toten weg.

Fortan saß also der junge Edelmann in Gestalt des Königs auf dem Throne. Doch ein besserer Herrscher war er nicht. Schnell berauschte ihn seine Macht und sein Argwohn versteinerte sein Herz. Keines seiner Versprechen hielt er ein. Kalt und grausam regierte er. Die Kerker waren voll und der Henker konnte nur selten ruhen.

Aber nicht bloß das Volk war voller Angst. Am meisten fürchtete sich der neue König selbst. Niemandem konnte er glauben, niemandem vertrauen. Nachts fand er kaum eine Stunde Schlaf und wenn ihn die Müdigkeit doch übermannte, so erwachte er bald mit Schrecken, weil er meinte, hinter dem schweren Vorhang habe er ein Messer aufblitzen sehen. Dann stand er auf und durchsuchte sein Schlafgemach nach einem Eindringling, so lange, bis die ersten Sonnenstrahlen durchs Fenster fielen.

In der Höhle im tiefen Wald indessen wartete die Hexe weiter geduldig auf einen Menschen, dessen Aufrichtigkeit und Güte stärker wären als sein Ehrgeiz und seine Zweifel.

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