Mein Erlanger Poetenfest 2019

Die Vorfreude auf den kulturellen Höhepunkt des Jahres wandelt sich für mich in reines Glücksempfinden, wenn ich am letzten Samstag im August den Erlanger Schlossgarten am hinteren Eingang betrete und in Richtung Hauptpodium schlendere. In der Luft liegt der Duft von Bratwürsten, Spätsommer und Kaffee (eine erstaunlich harmonische Mischung) und der Klang von experimenteller, ätherisch anmutender Musik. Wenn das Wetter so warm ist wie dieses Jahr, lege ich meine grüne Kuscheldecke nahe eines Lautsprechers auf den Boden und lasse mich nieder. Mein Blick streift versonnen über die gut besetzten Bänke, die aufgespannten Sonnenschirme und die Blätter der mächtigen Linden und Eichen. Ich blättere im Programm, schaue nochmal nach, wer als erstes lesen wird. Und schon betritt Hajo Steinert die Bühne und eröffnet den ersten von zwei herrlich entspannten Lesenachmittagen. Juchhe!

Meine Highlights dieses Mal:

Gertraud Klemm, Hippocampus: Helene Schulz, eine vergessene feministische Autorin, wird postum als Kandidatin für den Deutschen Buchpreis gehandelt. Ihre Freundin Elvira Katzenschlager will Helenes verzerrte Biografie gerade rücken. Dabei werden Elviras Aktionen immer gewagter, gar kriminell, sie begibt sich auf einen Kreuzzug gegen Sexismus und Heuchelei. Gertraud Klemm nimmt kein Blatt vor den Mund (an einer Stelle ihrer Lesung warnt sie vor: es könnten Fäkalausdrücke fallen), um Spießertum und Scheinheiligkeit zu entlarven.

Ursula März, Tante Martl: Mein persönlicher Favorit; das Werk steht zum Lesen bereit im Regal. In ihrem ersten Roman porträtiert Ursula März ihre Patentante Martina, geboren 1925, die nach Wunsch des Vaters ein Martin hätte sein sollen, denn zwei Töchter waren schon da, nun war es Zeit für einen Sohn. Einfühlsam und mit feinem Humor erzählt Ursula März von ihrer scheinbar unscheinbaren Tante Martl. Ich freu mich drauf!

Burkhard Spinnen, Rückwind: Hartmut Trössner ist ein erfolgreicher Windenergieunternehmer, mit großartiger Frau und kleinem Sohn. Er hat alles, bis er eines Tages alles verliert: Unternehmen, Familie, Haus. Nach dem Aufenthalt in einer Klinik steigt er in einen Zug nach Berlin. Bei ihm ist sein nur für ihn hörbares Alter Ego, das sich ihm als Überlebenstrainer vorstellt. Im Zug trifft Hartmut Trössner auf eine junge Frau, der er sein Leben erzählt.

Christiane Neudecker, Der Gott der Stadt: Ehrgeizige Schauspielschüler sollen im kurz-nach-der-Wende-Berlin ein unbekanntes Faust-Fragment des 1912 in der Havel ertrunkenen Georg Heym auf die Bühne bringen. (Mindestens) einer der Schauspielschüler wird nicht überleben. Geheimnisvolle Atmosphäre verheißend, gekonnt geschrieben und fesselnd vorgetragen. Am Büchertisch bereits vergriffen, aber auf meiner mentalen Einkaufsliste.

Jaroslav Rudiš, Winterbergs letzte Reise: Der 99-jährige sudetendeutsche Winterberg macht sich mit seinem tschechischen Krankenpfleger auf den Weg von Berlin nach Sarajevo. Mit dem Zug, im Gepäck der Baedeker-Reiseführer für Österreich-Ungarn aus dem Jahr 1913. Man ahnt schnell, dass dies keine Expresszugreise wird, die Lesung von Jaroslav Rudiš hatte allerdings enorm viel Schwung, Humor und einen wunderbaren tschechischen Akzent.

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