Nebelspiel

Widerwillig klappte der alte Mann den Geigenkasten zu. Mit grimmiger Miene zog er sein wollenes Jackett über und setzte die Mütze auf. Stampfenden Schritts verließ er das Haus, den Geigenkasten fest in der Hand. Er war so wütend auf Hubert, diesen Trottel!

Es war früh am Morgen, ganz früh. Der Nebel, feucht und kalt, würde später der Sonne weichen. Jetzt noch nicht.

Nichts als Ärger hatte er mit Hubert, nichts als Ärger. Mitten in der Nacht musste er raus, wegen Hubert. In die Kälte, in den Nebel. Plötzlich standen ihm Tränen in den Augen, bestimmt vom Nebel, und er setzte die Sonnenbrille auf.

An der vertrauten Stelle im Stadtpark angekommen, nahe der Holzbank inmitten wilder Blumen, nahm er die Geige aus dem Kasten und begann zu spielen. Er wusste genau, welche Lieder Hubert gefielen. Nach über 40 Jahren Freundschaft kein Kunststück.

Der alte Mann spielte eine wehmütige Melodie, die Parkbank im Blick. Hubert und er hatten hunderte, ach, tausende Male darauf gesessen. Geredet, geschimpft, gelacht hatten sie auf dieser Bank, fast täglich. Glückliche Momente.

Genau wie die Bank waren auch Hubert und er im Lauf der Jahre verwittert. Aber sie waren immer noch da gewesen. Nun fehlte Hubert. Hubert hatte es gewagt, zuerst zu sterben. Dieser Trottel!

Die Wut packte den alten Mann noch einmal und er spielte schief. Dann ließ er die Tränen laufen und sein Spiel wurde fließend, sanft. So klang es richtig und er wurde ruhig. So würde er heute Mittag spielen, im Sonnenschein nach dem Nebel. So würde er heute Mittag spielen, auf dem Friedhof. So würde er sich von Hubert verabschieden.

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