Sandkastenliebe

Schon als sie Kinder waren, hatte Gabriele entschieden, dass er sie später einmal heiraten würde. Auf dem Karussell auf dem Spielplatz hatte sie sich an ihn geschmiegt, während er das Rad in der Mitte immer noch schneller drehte, so lange, bis ihnen beiden schwindelig war. In der Schule saßen sie nicht nebeneinander, sondern Gabriele neben ihrer besten Freundin, er neben seinem besten Freund; Mädchen und Jungen saßen einfach nicht nebeneinander. Aber da sie in direkter Nachbarschaft wohnten, machten sie oft zusammen ihre Hausaufgaben. Gabriele ließ ihn in Mathe, später auch Physik und Chemie abschreiben, er half ihr ein bisschen in Englisch.

Als er beim Tanzkurs wie zufällig ihre Haarspange berührte, die ihre blonde Mähne bändigte, wurde Gabriele heiß und kalt zugleich. Wie gerne hätte sie Tango mit ihm getanzt, aber auf dem Stundenplan der Provinz-Tanzschule standen nur Walzer und Foxtrott. Gegen Ende des Abschlussballs, sie hatten beide Sekt und süßen Wein getrunken, wagte Gabriele das Verwegene: Als er von der Toilette zurückkam, passte sie ihn ab, zog ihn in einen unbeleuchteten Seitengang und küsste ihn. Er erwiderte den Kuss, vielleicht etwas weniger leidenschaftlich als sie es sich vorgestellt hatte, aber ab diesem Zeitpunkt „gingen sie miteinander“.

Als das Abitur vor der Tür stand, waren sie noch immer ein Paar. Gabrieles Noten waren gut, für ihn war es eine Zitterpartie und ohne ihre Hilfe hätte er bestimmt Schiffbruch erlitten. Wegen starker Kurzsichtigkeit musste er nicht zur Bundeswehr und sie konnten zusammen ein BWL-Studium in der nächstgelegenen Universitätsstadt beginnen. Gabrieles Eltern besaßen dort mehrere kleine Eigentumswohnungen und in eine zogen sie gemeinsam ein.

Gabriele war sich sicher, dass er sie heiraten würde, noch bevor sie ihre Diplomprüfungen abgelegt haben würden. Gabrieles Überzeugung begann auch nicht zu bröckeln, als er immer häufiger mit Kommilitonen um die Häuser zog, während sie zu Hause brav lernte. Sie wollte ihm seinen Freiraum lassen, zumindest solange sie noch nicht verheiratet waren und noch keine Kinder hatten.

Einmal in der Woche, immer donnerstags, ging Gabriele ins Fitness-Studio. Erst trainierte sie an den Geräten, danach noch eine Stunde Bauch-Beine-Po. An einem kalten Herbsttag fühlte Gabriele sich etwas kränklich und verzichtete auf den Fitness-Kurs. Als sie früher als geplant nach Hause kam, fand sie sich in einem schlechten Film.

Sie überraschte ihn mit Bettina. Bettina war zwei Semester unter ihnen, etwas pummelig und Gabrieles Meinung nach nicht besonders helle. Die beiden waren nicht etwa im Bett zugange, sie trieben es auf dem Küchentisch. Er wurde kreidebleich, Bettina schrie vor Schreck. „Hör auf zu plärren“, sagte Gabriele leise. Bettina schrie weiter. „Hör auf zu plärren“, wiederholte Gabriele; ihr Ton war scharf. Er setzte an, etwas zu sagen, ließ es dann aber. Bettina schrie immer weiter. „Zum letzten Mal: Hör auf zu plärren, du fette Kuh.“ Bettina hörte nicht auf. Gabriele griff nach dem glänzenden Fleischmesser, das er sich zum letzten Geburtstag gewünscht hatte. Gabriele war verblüfft, dass es so einfach war. Kurz darauf war Bettina still.

2 Antworten zu “Sandkastenliebe

  1. Der letzte Satz ist der beste 🙂

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