Als sie die alten Holzstufen hochstieg, hörte Eva, wie von außen eine Wohnungstür zugesperrt wurde. Brigitte aus dem zweiten Stock. Eva erkannte alle Nachbarn an den Geräuschen, die sie machten. Brigitte steckte gerade den Schlüsselbund in ihre Jutetasche, als Eva auf dem Treppenabsatz ankam.
„Hallo, Brigitte, wie geht es dir?“
„Eva, hallo! Na, es geht so. Und dir?“
„Gut, danke.“
„Heute ohne Gepäck unterwegs?“
Eva wusste inzwischen, dass Brigitte damit die Vierlinge meinte. „Die Jungs sind beim Fußball und die Mädchen beim Flötenunterricht. Ich hab sie gerade alle hingebracht. Ums Abholen muss ich mich zum Glück nicht kümmern, da nehmen Frau Koch und Frau Hopfengärtner sie mit.“
„Ach, Eva, da hätte ich mir aber mehr von dir erwartet!“
Eva überlegte ehrlich angestrengt, was Brigitte ihr damit sagen wollte, aber ihr fiel nichts ein.
„Du hast keine Ahnung, was ich meine, oder?“
Eva schüttelte den Kopf.
„Die Mädchen beim Flöten, die Jungs beim Fußball! Du presst deine Kinder in ausgediente Rollenklischees, die unsere Gesellschaft schleunigst überwinden muss, wenn sie eine Zukunft haben will!“
Eva wusste immer noch nicht, worum es ging. Sie blieb stumm. Brigitte sprach weiter.
„Du hast die Verpflichtung, die nächste Generation zu kritisch denkenden und das System hinterfragenden Bürgern zu erziehen! Du darfst ihnen die Wahrheit nicht vorenthalten! Weißt du eigentlich, was passiert, wenn der Kalte Krieg eskaliert? Wenn die Amis oder die Russen auf den Roten Knopf drücken? Dann sind wir mittendrin! Dann fallen die Atombomben nämlich hier in Deutschland. So ist das!“
Eva konnte sich nicht vorstellen, was die Flötenstunden und der Fußballverein mit Atombomben zu tun hatten, aber sie spürte diese unfassbare Angst um ihre Familie, die auch immer dann aufkam, wenn sie im Fernsehen die Politiker reden hörte. Eva mochte diese Angst nicht, deshalb sah sie lieber Sendungen wie die Schwarzwaldklinik oder das Traumschiff.
„Und ein Krieg ist schnell da! Da muss nur ein einziger Mensch für einen Moment die Nerven verlieren. 1914 in Sarajevo ging das auch Knall auf Fall und schon stand die Welt in Flammen. Echten Frieden hat’s seitdem nicht mehr gegeben. Wir leben ja nur im Waffenstillstand. Und wenn du mich fragst: Wenn die Welt weiter in den Händen von chauvinistischen Allmachtsphantasten bleibt, dann wird’s nie wahren Frieden geben! Männer suchen immer den Kampf, wollen immer der Stärkste sein. Das fängt schon ganz früh an. Im Fußballverein zum Beispiel. Da bekommen deine Jungs das beigebracht! Nur gewinnen zählt, nicht das Miteinander. Männer wollen beherrschen. Das ist bei denen biologisch verankert. Ich hab da einen total spannenden Artikel von einer Soziologin gelesen, die beweist, dass die Atombombe zu werfen für einen Mann ist wie zu ejakulieren. Den kann ich dir mal leihen, den Artikel, mein ich.“
Beim Wort „ejakulieren“ weiteten sich Evas Augen und sie war froh, dass die Kinder nicht dabei waren.
„Wir Frauen müssen endlich unsere Stimmen erheben! Auf Demos, im Beruf, überall. Überall, Eva! Sonst sieht’s zappenduster aus. Aber wie sollen deine Töchter ihre Stimmen erheben, wenn ihnen ein Stück Holz im Mund steckt, aus dem nur zaghafte Töne kommen! Schlagzeug wäre ein besseres Instrument.“
Eva war verwirrt. „Aber Schlagzeug würde die Hausverwaltung bestimmt nicht erlauben, das ist doch viel zu laut.“
Brigittes Lächeln zeigte einen Anflug von Resignation. „Ach, liebe Eva. Genau darum geht es doch. – Jetzt muss ich aber wirklich los. Ich komm sonst zu spät zu meiner Kunstgruppe, wir wollen heute batiken. Mach’s gut, Eva. Und denk mal drüber nach, was ich gesagt habe!“
Eva nickte pflichtbewusst. „Ja, Brigitte, das mach ich bestimmt.“
Schwungvoll ging Brigitte an Eva vorbei die Treppen hinunter. Die Sohlen der Birkenstocksandalen machten ein ganz besonderes Geräusch auf den knarzigen Holzbohlen. So klang Brigitte. Eva mochte sie, auch wenn Eva kaum ein Wort von dem verstand, was Brigitte sagte. Brigitte war einfach richtig klug, da konnte Eva nicht mithalten. Schade eigentlich, dass Brigitte keinen Mann und Kinder hatte, dachte Eva, als sie weiter die alten Stufen hochstieg.