Galizien, um 1900: Ein Säugling stirbt im Kindsbett. Die Eltern verzweifeln, die Ehe zerbricht, der Vater sucht sein Glück als Auswanderer, die Mutter rutscht ab.
Dann ein Intermezzo, die Zeit wird zurück gedreht. Die kleine Tochter wird gerettet und lebt. Die Familie bleibt zusammen, wandert nach Wien aus, wo sich neue berufliche Chancen für den Vater eröffnen. Hoffnung keimt in der Leserin: Das Unglück ist abgewendet, alles kann gut werden.
Aber schnell wird klar: Nichts wird gut. Offener Antisemitismus und die Härten des Ersten Weltkriegs in der Großstadt sind schwere Bürden. Todessehnsucht treibt die inzwischen jugendliche Tochter in den Selbstmord. Sie stirbt – zum zweiten Mal im Buch.
Und wieder wird an den Schrauben des Schicksals gedreht, ein weiteres Intermezzo, das Mädchen überlebt. Was bringt die dritte Chance? – Es wird jedenfalls nicht die letzte sein.
Jenny Erpenbeck versteht es meisterhaft, mit Möglichkeiten und Gelegenheiten zu spielen. Sie weckt Hoffnungen, die sich selten erfüllen. Sie zieht die Leserin in den Sog der Familiengeschichte, die die Geschichte des 20. Jahrhunderts in der Mitte Europas spiegelt. „Aller Tage Abend“ ist keine leichte Kost, aber sie lohnt sich: Wegen der wunderbaren Sprache, der kunstvollen Struktur und der packenden Handlung.