Am meisten bedauere ich, dass ich nie erfahren werde, ob ich zur Tanzkönigin gewählt worden bin. Meine Chancen standen nicht schlecht. Alle hatten mein kirschrotes Ballkleid bewundert: eine schlicht geschnittene Korsage mit einem fließenden bodenlangen Chiffonrock. Erik, mein Tanzpartner und fester Freund, hatte vor Begeisterung gejault wie ein junger Wolf bei Vollmond, als er mich vor dem Eingang der Schulaula darin sah. So dröge der Tanzkurs manchmal gewesen war, beim Abschlussball hatten alle einen Höllenspaß.
Jeder konnte bei der Wahl zum Tanzkönigspaar mitmachen. Erik hatte gemeint, wir sollten für uns selbst stimmen, doch das fand ich nicht fair. Stattdessen habe ich für die gackernde Julia und den sauertöpfischen Henry gestimmt. Ich mag beide nicht – aber tanzen können sie wirklich.
Kurz vor Bekanntgabe des Ergebnisses wollte ich noch schnell zur Toilette. Das war ein Fehler. Ein großer. Mein letzter. Die Fliesen im Vorraum waren nass, ich war in Eile, rutschte aus, verlor den Halt in meinen hochhackigen Silbersandalen und krachte mit dem Kopf erst hart auf den Waschbeckenrand, dann auf die Fliesen.
Ein paar Minuten dämmerte ich noch dahin, aber ich wusste schon, dass das nichts mehr werden würde. Irgendwann kamen zwei Mädchen herein, vielleicht Carla und Susi, ich bin nicht sicher, eine kreischte, die andere tätschelte mir vorsichtig den Kopf und jammerte: So viel Blut, so viel Blut.
Als der Notarzt kam, war ich schon nicht mehr in meinem Körper. Als Zaungast beobachtete ich die Szenerie. Ernst blickende Ärzte, die bald nur noch den Kopf schüttelten. Schluchzende Mädchen, schluckende Jungs. Erik war nicht da. Der Ball wurde sofort abgebrochen, es wurde kein Tanzkönigspaar gekürt.
Eine gute Woche ist das jetzt her. Ich bin immer noch in der Schultoilette gefangen. Sehr gemütlich ist es nicht, aber als Gespenst ist man genügsam. Schlechte Luft und schimmelige Ecken stören mich nicht.
Gestern habe ich ein Gespräch zwischen der arroganten Tanja und der megareichen Babs belauscht. Beide waren sehr bestürzt über meinen tragischen Tod. Als ich lebte, haben sie kein Wort mit mir gewechselt. Babs erzählte, sie habe am Ballabend Erik und die dürre Tamara in einer dunklen Ecke des Schulkräutergartens beim Knutschen gesehen, just als ich mein Ende fand. Ich hatte schon länger so einen Verdacht. Tamara ist mir egal, ihr bin ich nicht böse. Sie ist mit ihrer Magersucht genug gestraft. Aber ich muss unbedingt herausfinden, wie ich hinüber in die Jungstoilette komme. Erik, diesem Rabenaas werde ich’s zeigen!