Friedhofsstille

Um Ruhe zu finden, gehe ich auf den Friedhof. Ich besuche kein bestimmtes Grab, ich suche nur ein wenig Stille. Langsam gehe ich den Weg zwischen den Grabreihen entlang. Er führt einen kleinen Hang hinauf. Die Kiesel knirschen unter meinen Sandalen. Meine Augen streifen über die Namen, Daten und Inschriften auf den marmorierten Grabsteinen. Zweimal lese ich: In stillem Gedenken. Stille. Friedhofsstille.

Oberhalb der Gräber steht eine Bank aus dunklem Holz. Ich setze mich und sehe mich um. Vor mir die Grabreihen, die mir jetzt ihre Rücken zuwenden. Dahinter, ein gutes Stück entfernt, ein halbes Dutzend Einfamilienhäuser, dahinter Wald, der sich auch zu meiner Linken den Hang hochzieht. Rechts von mir die gepflegte Dorfkirche. Hinter mir eine hohe, sattgrüne Hecke. Ich atme tief ein. In der sommerlich warmen Luft liegt der Duft von frisch gebackenen Brötchen. Ich atme aus und schließe für einige Momente die Augen, komme zur Ruhe. Ruhe. Stille.

In der Hecke hinter mir sitzen Spatzen, die fröhlich-aufgeregt zwitschern. Dann fliegen sie eifrig flatternd an mir vorbei zum Kirchendach. In einiger Entfernung bellt ein Hund. Dreimal kurz hintereinander, ein kräftiges Bellen, Pause, dann bellt er noch dreimal. Eine Hummel fliegt brummend und suchend um meinen Fuß herum. Schließlich lässt sie sich auf einer Kleeblüte nieder.

Über den Baumwipfeln zieht ein Raubvogel seine Kreise, gleitet elegant in der Höhe, im Himmel, den eine dünne Wolkenschicht bedeckt. Leichter Wind bewegt die Äste der Bäume, die hochgewachsenen Birken pendeln sanft hin und her. Krähen rufen tief und rau.

Ein Niesen und „Gesundheit“ aus Richtung der Wohnhäuser. Gesprächsfetzen. Eine Männerstimme: Irland. Eine Frau: Nein. Der Mann: Doch, Irland. Die Frau lacht. Zwei Autotüren werden zugeschlagen, fast zeitgleich. Der Motor wird angelassen, surrt im Leerlauf, dann wird Gas gegeben und Reifen rollen über Schotter.

In der Hecke hinter mir ein Piepsen. Hell und hoch, aber lebhaft, ausdauernd, als wolle es sagen: Hier bin ich. Ich bin hier. Hier bin ich. Die Kirchturmuhr schlägt zehn. Dunkle, gleichmäßige Glockentöne, die weit tragen, in die Häuser und Höfe des Dorfes und noch weiter ins Tal hinein.

Ich stehe auf, verlasse die Bank, den Friedhof, kehre in die Alltagswelt zurück, nehme all das, was ich in der Friedhofsstille hören konnte, mit mir.

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