Folgen Sie dem Fuchs! oder: Die Karten lügen nicht – Anmerkung: Diesmal ganz ohne Frauenzeitschrift

Carolas Suche, Teil 9
Was zuvor geschah

„Ich gehe doch nicht zur Wahrsagerin!“, sagte Carola entrüstet.

Ihre Kollegin Irene erklärte verteidigend: „Donna Ana ist keine Wahrsagerin. Sie ist Beraterin. Und eine Meisterin im Lesen der Karten. Dazu so feinfühlig und sensitiv. Sie spürt Dinge, die anderen entgehen. Sie hat mir schon oft geholfen. Hier, nimm ihre Karte. Das tut nicht weh.“

Irene hielt Carola eine golden glänzende Visitenkarte mit geschwungenem Aufdruck entgegen. Zögernd nahm Carola die Karte und steckte sie ins hintere Fach ihres Portemonnaies.

Eine Woche später stand Carola vor Donna Anas Tür. Die Meisterin der Sensitivität wohnte ganz unscheinbar in einem Mehrfamilienhaus in einer biederen Wohngegend. „Donna Ana – Beratung“ war neben der Klingel zu lesen, auf die Carola ein wenig unsicher drückte. Der Türsummer ertönte fast sofort. Im Treppenhaus roch es frisch geputzt. Eine der drei Wohnungstüren im ersten Stock war angelehnt und gerade, als Carola anklopfen wollte, rief eine melodische, leicht rauchige Stimme aus der Wohnung: „Treten Sie nur ein, meine Gute. Ich bereite uns einen Tee.“

Der Wohnungsflur war hell und freundlich. Schlichte Holzmöbel und ein großer, schmal gerahmter Garderobenspiegel, ein dezent gemusterter Läufer und an den Wänden mehrere Fotos einer Strandlandschaft, wahrscheinlich Mittelmeer.

„Legen Sie ab, meine Beste, und gehen Sie ruhig schon in den Beratungsraum, zweite Tür links. Ich bin gleich bei Ihnen.“

Carola hing Mantel und Schal an den Garderobenständer und betrat den Beratungsraum, die Tür hatte offen gestanden. Das Zimmer war recht klein und wirkte sehr aufgeräumt. Ein runder Tisch aus dunklem Holz in der Mitte, dazu zwei passende Stühle. Regale voller Bücher, allesamt ordentlich gereiht. Schwere bordeauxrote Vorhänge, sonst keine Accessoires. Carola hörte ein leises Klappern hinter sich und drehte sich um.

„Willkommen, meine Teuerste. Sie mögen doch Tee, nicht wahr?“ Donna Ana war klein und schlank. Ein dunkler, akkurat frisierter Pagenschnitt umrahmte ihr waches Mausgesicht.

Eher Mireille Matthieu als düstere Zigeunerin, schoss es Carola durch den Kopf. Donna Ana setzte ein Tablett mit zwei hohen Tassen, einer Zuckerdose und einem Milchkännchen auf dem Tisch ab. Dann drückte sie Carola freundschaftlich die Hand und wies ihr einen der Stühle zu.

„Was führt Sie zu mir, mein Herz? Am Telefon erwähnten Sie nur, Sie bräuchten Hilfe in einer wichtigen Angelegenheit. Nehmen Sie Milch und Zucker?

Carola schüttelte den Kopf und suchte nach Worten. „Normalerweise treffe ich meine Entscheidungen allein“, begann sie.

Donna Ana hatte Carola eine Teetasse gereicht und schaufelte sich vier Löffel Zucker in ihre eigene.

„Aber diesmal…“, fuhr Carola langsam fort. „Ich weiß nicht. Ich brauche einfach einen guten Rat.“

„Es geht um einen Mann, meine Liebe?“

„Nun… Also… Ja. Er heißt Nick. Vor sieben Monaten haben wir uns getroffen, zufällig, bei einem Tanzkurs. Nick ist verwitwet, seit zwei Jahren. Er hat einen fünfjährigen Sohn, Ben. Ich habe Ben vor kurzem kennen gelernt. Er ist ein wenig schüchtern, aber sehr intelligent und süß… Ja, und letzte Woche hat Nick mich eingeladen, die Weihnachtsfeiertage mit ihm zu verbringen, in einer Hütte in den Bergen. Ben wäre natürlich auch dabei. Und Nicks Schwester. Und Nicks Eltern… Selbstverständlich freue ich mich über die Einladung, aber…“

Während Carolas Bericht hatte Donna Ana die Tarotkarten gemischt. „Sagen Sie nicht mehr, meine Werteste! In Liebesdingen fühlen wir oft ambivalent. Einerseits sehnen wir uns nach Nähe, Geborgenheit, Leidenschaft. Andererseits fürchten wir Enge, Verpflichtung, Eifersucht. Wir wollen jetzt sehen, was uns die Karten sagen.“

Donna Ana hatte den Stapel verdeckt vor sich gelegt. Sie zog die oberste Karte und platzierte sie aufgedeckt auf die Tischmitte. Eine junge Frau in einer roten Robe und mit einer Art Krone war abgebildet. In der Hand ein Speer, zu ihren Füßen ein Fuchs und hinter ihr die auf- oder untergehende Sonne.

„Ah, die Königin der Stäbe!“ Donna Ana schien erfreut. „Sie symbolisiert Kraft und Mut und ist ein Zeichen für nahende Erleuchtung. Aber die Erleuchtung wird nicht von alleine kommen. Sie müssen sie suchen. Der Fuchs steht für den Instinkt. Er wird Ihnen den Weg zeigen. Folgen Sie dem Fuchs!“

Carola nickte, ohne wirklich zu verstehen. Donna Ana deckte eine zweite Karte auf.

„Interessant! Die Vier der Stäbe! Die Vier der Stäbe zeigt eine Entwicklung an. Es wird sich etwas verändern, und zwar bald. In welche Richtung diese Veränderung geht, zeigt uns die dritte Karte.“

Donna Ana nahm wieder die oberste Karte vom Stapel. Diesmal hielt sie einen Moment inne, bevor sie die Karte für Carola sichtbar ablegte. Auf der Karte war eine weiblich anmutende Gestalt in einem violetten Gewand, das auch ihren Kopf umfloss. Sie schritt durch eine Wiese, über die der blasse Vollmond schien. In der Rechten hielt sie eine kleine Sense, vor ihr auf dem Weg lagen fünf menschliche Schädel. Oben auf der Karte stand: Der Tod.

Carola erschrak: „Ach du meine Güte! Was bedeutet das?“

„Beruhigen Sie sich, meine Schöne. Der Tod wird oft missinterpretiert. Nur selten steht die Karte für den Tod im landläufigen Sinn. Vielmehr weist sie auf das Ende eines Lebensabschnittes und kündet gleichzeitig vom Beginn eines neuen Kapitels. Der Tod fordert jedoch, dass man alles Alte hinter sich lässt und frei von der Vergangenheit in die neue Phase tritt. Ich habe den Tod schon bei Klientinnen gelegt, die waren vier Wochen später verheiratet!“

Carola nahm einen großen Schluck Tee und wünschte sich, Donna Ana hätte neben Milch und Zucker auch Rum dazu angeboten. Dabei wusste Carola nicht, ob sie der Tod oder das „vier Wochen später verheiratet“ mehr beunruhigte. Carola stellte die leere Tasse ab und fragte entschlossen: „Und was raten Sie mir jetzt wegen der Weihnachtstage und der Berghütte?“

Donna Ana überlegte nur kurz: „Nehmen Sie die Einladung an, meine Liebste. Fahren Sie, unbedingt! Und machen Sie sich auf alles gefasst.“

So geht es weiter…

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