Drei Wochen nach der Trennung wohnte ich noch immer bei meinen Eltern. Ich schlief bis mittags, blieb den ganzen Tag im Pyjama und zappte ununterbrochen durch die 45 Satellitenkanäle. Meine Eltern tänzelten hilflos um mich herum. Mein Vater lächelte ständig und versicherte mir, er würde mich in all meinen Plänen unterstützen. Meine Mutter kochte meine Lieblingsgerichte und trug sie mir bis zum Couchtisch hinterher, aber ich hatte kaum Appetit.
Ich habe ihnen nie erzählt, was genau geschehen war. Es gab niemanden, dem ich mich hätte anvertrauen können. Ich behielt meinen Schmerz und meine Wut verschlossen in einem dunklen Winkel, auch vor mir selbst.
Meine Mutter gab mir den Anstoß zu verreisen. Sie sagte, ich müsse aus meiner Lethargie heraus, weg von allem. Vielleicht wollte sie auch einfach nicht mehr zusehen, wie ich litt. Ich ging nur widerwillig mit ins Reisebüro. Gemeinsam mit der Reisekauffrau legte meine Mutter die Route fest, ich ließ es geschehen. Fünf Tage später saß ich im Flugzeug nach Cancún.
*
Nach dem trüben Herbstnebel in München war mir die strahlende Sonne Mexikos durchaus willkommen. Elend ging es mir trotzdem. Ich mied die anderen Gäste im Hotel. Etliche Männer sprachen mich an, luden mich zum Essen oder auf Drinks an die Bar ein. Ich lehnte alle Angebote ab.
Die Krise kam an meinem 30. Geburtstag. Ich ging nicht zum Frühstück und schickte das Zimmermädchen weg. In einem Dämmerzustand ließ ich mich von spanischen und amerikanischen Fernsehsendungen berieseln. Als es dunkel wurde, setzte ich mich auf meinen Balkon, mit allem Alkohol, den ich in der Minibar finden konnte. Hier bist du nun, dachte ich bitter. Allein, einsam, betrogen.
Nach vier oder fünf Fläschchen kamen endlich die Tränen. Erst rannen sie fast unmerklich meine Wangen hinab, dann begann ich zu schluchzen und zu klagen. Ich ging ins Zimmer und schlug mit den Fäusten auf Kissen und Bettdecke ein. Ich stellte mir vor, es wären Erik und Tanja. Du Schwein, du Miststück, rief ich. Erik, du Schwein! Tanja, du Miststück! Mit aller Wucht traktierte ich das Bettzeug, bis ich entkräftet liegen blieb, ein Kissen umklammert. Ich spürte, wie mein Atem langsamer und wieder regelmäßig wurde. Ein und aus, ein und aus. Immer weiter. Es ging immer weiter. Das Leben ging weiter.
In dieser Nacht träumte ich. Ich war in einer alten Stadt voller prächtiger Herrenhäuser mit kunstvollem Stuck und gusseisernen Balkonen. Ich konnte fliegen wie ein Vogel und mit dem Schwung meiner Arme erreichte ich den Giebel eines der Häuser. Von dort konnte ich die ganze Stadt überblicken und sah, dass die Schönheit kein Ende nahm. Ich wollte wieder nach unten, fürchtete aber, dass ich abstürzen könnte. Ich sagte mir: Nein, das wird nicht geschehen, du kannst doch fliegen. Ich schloss die Augen und schwebte mit ausgebreiteten Armen nach unten, bis ich sicher auf meinen Füßen landete.
Am nächsten Tag beim Frühstück lächelte ich zum ersten Mal zurück, als der Kellner mich zuvorkommend begrüßte.
*
Ich war wie erlöst. Endlich fühlte ich wieder! Endlich ließ ich die Wut über den Betrug, den Schmerz über meinen Verlust zu. Ich trauerte um mein untergegangenes Leben, um die Beziehung zu Erik, die Freundschaft zu Tanja. Die Wunden konnten langsam beginnen zu heilen. Es würden jedoch Narben bleiben, denn verzeihen konnte ich Erik und Tanja nicht.
Von Mexiko aus flog ich nach Bangkok und verbrachte mehrere Wochen auf verschiedenen Inseln Thailands und Indonesiens. Manchmal schloss ich mich anderen allein reisenden Frauen an, um abends mit ihnen essen zu gehen, aber die meiste Zeit blieb ich für mich. Nach drei Monaten konnte ich wieder lachen und mich freuen, weinte viel weniger und sehnte mich nach München. In einer anderen Stadt wollte ich nicht leben. Zu Kirchner & Mack konnte ich jedoch nicht zurück, ich musste neu beginnen, ganz und gar.
Ich erinnerte mich an Ralf Schuster. Im Grundstudium hatten wir eine Handvoll Seminare zusammen belegt und ein gemeinsames Referat gehalten. Er war ein intelligenter, zielstrebiger und ehrgeiziger Mensch mit einem herzlichen Lachen. Ich wusste, dass er nach dem Studium eine Marketingagentur in Schwabing gegründet hatte, die Janus Marcom GmbH. Nach meiner Heimkehr wollte ich Ralf anrufen und ihn um hilfreiche Kontakte für die Jobsuche bitten. Mit diesem Plan und emotional einigermaßen stabil flog ich zurück ins winterliche München.