Zwölf Jahre ist es her. Verloren fühlte ich mich; einsam, allein, nicht unglücklich, aber ruhelos und ohne Ziel. Auf der Suche nach mir selbst flog ich weit in den Süden, auf eine kleine Insel im Indischen Ozean, La Réunion, zu Frankreich gehörend.
Mit dem Mietwagen bereiste ich die Insel auf einer vorgeplanten Route, jeden Tag eine andere Station. Die dritte oder vierte Etappe brachte mich nach Cilaos, einen Ort im Inselinneren, in einem sattgrünen Talkessel gelegen. Mir schien es, als verginge die Zeit dort langsamer als anderswo. Die Luft war feucht und warm, aber weniger drückend als an der Küste. Von den Berggipfeln senkten sich Wolken hinab und ich glaubte fast, sie berühren zu können. Sehr viel gab es im Ort nicht zu sehen. Eine modern gebaute Kirche, einige der typischen kreolischen Häuser, ein, zwei Restaurants, ein, zwei kleine Läden. In einen ging ich hinein; dort gab es Tee, Kräuter, Räucherstäbchen. Sicher duftete es nach Vanille, Bourbon-Vanille, früher ein wichtiges Exportgut.
Ich kann mich nicht erinnern, ob ich ihn sofort nach dem Betreten des Ladens gesehen habe oder erst, nachdem ich mich ein wenig umgeschaut hatte. Aber als sich unsere Blicke trafen, wurde mir heiß, mein Herz schlug schnell, ganz schnell, und die Zeit stand für einen winzigen Moment lang still. Und auch, wenn ich es nicht wirklich wissen kann, so bin ich mir ganz sicher, dass es ihm genauso ging. Er stand hinter der Ladentheke aus Holz und fragte freundlich, ob er helfen könne. Ich verneinte ebenso freundlich und bemühte mich sehr, mich auf die Waren in den Regalen zu konzentrieren. Dabei hätte ich lieber nur ihn angeschaut. Ich denke, er war ein paar Jahre jünger als ich damals, etwa Ende Zwanzig. Sein hellbraunes Haar ein wenig zerzaust, wie sein Bart. An seine Augenfarbe erinnere ich mich nicht, aber sein Blick war offen und sanft.
Natürlich kaufte ich etwas, bestimmt etwas mit Vanille; ich weiß nicht mehr, was. Beim Bezahlen fragte er mich, woher ich käme und ob es mir hier gefalle. Wahrscheinlich antwortete ich auf Englisch, denn mein Französisch war auch damals schon ziemlich eingerostet. Dann erzählte er, dass er mit guten Freunden außerhalb des Ortes auf einer Art Farm lebe und dass an diesem Abend weitere Freunde zu einem kleinen Fest kämen. Wenn ich wolle, sei ich herzlich willkommen. Er beschrieb mir den Weg und ich glaube, er notierte die Adresse auf einem Blatt Papier. Ich bedankte mich und sagte, ich würde es mir überlegen.
Nichts wünschte ich mir in diesem Augenblick sehnlicher, als den Abend und vielleicht auch die Nacht mit diesem Mann zu verbringen. Ich stellte mir gar vor, wie wir gemeinsam in der Farm-Kommune leben, Süßkartoffeln anbauen und auf ewig glücklich sind – und doch wusste ich, dass ich an diesem Abend in meinem Hotel bleiben, früh zu Bett gehen und am Morgen darauf zu meiner nächsten Etappe aufbrechen würde.
Und so war es auch. Kurz danach dachte ich sehr oft an diese Begegnung, im Lauf der Zeit dann immer seltener. Ab und zu erinnere ich mich heute noch an diesen Moment, diesen magischen Moment, in dem ich in den sanften, bärtigen jungen Mann im Teeladen in Cilaos verliebt gewesen bin.
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