Monatsarchiv: März 2021

Autorin der Woche (12/2021)

1903 wird Irène Némirovsky als einziges Kind eines jüdischen Bankiers in Kiew geboren. Der Vater ist viel auf Reisen, die Mutter interessiert sich nicht für die Tochter und so wächst Irène in der Obhut einer französischen Gouvernante auf. Die Familie flieht vor der Russischen Revolution und kommt 1919 nach Paris, wo sie schnell wieder zu Reichtum gelangt. Irène studiert Literatur an der Sorbonne und beginnt mit 18 Jahren Prosa zu schreiben. 1926 heiratet sie den ebenfalls staatenlosen Michel Epstein; zwei Töchter, Denise und Élisabeth, werden geboren.

Irènes erster Roman erscheint 1929 und macht sie macht sie schlagartig bekannt. Weitere Werke folgen, sie ist als Schriftstellerin anerkannt, die französische Staatsbürgerschaft wird ihr (wie ihrem Ehemann) jedoch verwehrt. Irène erkennt die Zeichen der Zeit und konvertiert 1939 zum Katholizismus, die beiden Töchter werden zum Schutz aufs Land gebracht. Die antisemitischen Gesetze der Vichy-Regierung zwingen Irène und Michel, Paris zu verlassen. Sie wohnen mit ihren Kindern in einem Hotel in der Provinz, in dem auch Offiziere und Soldaten der Wehrmacht untergebracht sind.

Irène unternimmt lange Spaziergänge und arbeitet an einem neuen, auf fünf Teile angelegten Roman: Suite française. Nur zwei der fünf Teile wird Irène fertig stellen: „Sturm in Juni“ schildert die Flucht von Pariser Bürgern angesichts der drohenden deutschen Eroberung im Juni 1940. „Dolce“ handelt von der Einquartierung eines Wehrmachtsregiments in dem kleinen Ort Bussy.

Am 13. Juli 1942 wird Irène Némirovsky verhaftet und nach Auschwitz deportiert, wo sie am 17. August völlig geschwächt stirbt. Ihr Mann wird im Oktober 1942 nach Auschwitz gebracht und sofort nach seiner Ankunft in der Gaskammer ermordet. Irène und Michel können ihre Töchter retten; von Freunden versteckt in einem Kloster und später in Höhlen, überleben die Mädchen den Krieg. In einem Koffer tragen sie Irènes letztes Manuskript bei sich, halten es jedoch nur für Skizzen und Notizen und erkennen erst 1998, dass es sich um die ersten beiden Teile von Suite française handelt. 2004 wird Irènes letzter Roman auf Französisch veröffentlicht (deutsch: 2005), ist sofort ein Erfolg und führt so zur Wiederentdeckung ihres Werkes.

Autorin der Woche (11/2021)

Meine allerliebste Lieblingssendung im TV dauert nur etwa zwölf Minuten und läuft Sonntagabend kurz vor sieben auf Arte: Karambolage.

Deutsch-französische Eigenheiten und Kuriositäten werden auf originelle und humorvolle Art und Weise vorgestellt. Konzipiert und realisiert wird Karambolage seit 2004 von Claire Doutriaux, einer französischen Filmemacherin, die lange in Deutschland gelebt und gearbeitet hat und die seit 1998 das „Atelier de recherche“ bei Arte France leitet.

Jeden Sonntag freue ich mich auf Karambolage, weil es so kunstvoll-leichtfüßig mein frankophiles Herz entzückt. Danke, Mme Doutriaux!

Der Wasserkobold im Brunnen

Auf dem Altstädter Kirchenplatz in Erlangen steht ein Brunnen, der ist hübsch anzusehen: ein steinernes Becken, kreisrund, das flache Wasser grün von Moos, auf einem schalenförmigen Podest eine Bronzefigur, der Fischerknabe mit Hecht. Furchtlos ringt der Knabe den Hecht nieder, derweil aus dessen Maul klares Wasser sprudelt. Rings um den Brunnen laden Sitzbänke ein zur Rast, vielleicht auf einen Plausch mit Freunden oder Nachbarn, insbesondere bei Sonnenschein. Des Nachts treffen sich die Liebespaare, sitzen eng umschlungen und geloben gegenseitige Ergebenheit.

Doch vor ein paar Monaten, am Tag nach der Frühlingstagundnachtgleiche, da passierte etwas Außergewöhnliches. Der Wasserkobold Paul kam an den Brunnen und beschloss kurzerhand, ihn zu seinem neuen Heim zu machen. Außergewöhnlich ist das in der Tat, denn wie jeder weiß, leben Wasserkobolde, auch die Erlanger, normalerweise nur an fließenden Gewässern.

Bis dahin war die Schwabach Pauls Heimat gewesen, ein Flüsschen im nördlichen Erlangen. Dort hatte Paul glücklich gelebt, und seit er denken konnte, liebte er Pauline. Tagsüber jagten die beiden den Sonnenstrahlen hinterher, die sich im Wasser brachen, und wenn sie am Ufer ausruhten, versicherte Pauline Paul, wie sehr ihr seine großen Ohren gefielen, gleichwohl ihn die anderen oft deswegen auslachten. Für einen Wasserkobold waren Pauls Ohren wirklich riesig. Jede Nacht träumte Paul von Paulines seidiger Aquamarinhaut, ihren wiegenden Silberhaarlöckchen und ihrem glockenhellen Lachen.

Immer zur Frühlingstagundnachtgleiche wählte eine Wasserkoboldin einen Bräutigam und dieses Jahr war Pauline an der Reihe. Aber, oh weh, Pauline entschied sich nicht für Paul, sondern für Anton, weil auf dessen dicken Zehen so viele dunkle Haare wuchsen, sagte sie. Behaarte Zehen gelten bei Wasserkobolden als Merkmal besonderer Schönheit. Pauls Herz brach entzwei. Während die Wasserkoboldgemeinde ausgelassen Paulines und Antons Hochzeit feierte, machte Paul sich auf den Weg. Fort wollte er, weit fort, ans andere Ende der Welt.

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Autorin der Woche (10/2021)

Alice Schwarzer kämpft seit Jahrzehnten für die Gleichberechtigung von Frauen – in Frankreich, Deutschland und weltweit. Sie ist eine scharfsinnige und – wenn angebracht – auch scharfzüngige Journalistin und Buchautorin. Spätestens seit der „Der kleine Unterschied und seine großen Folgen“ (1975) und der Emma (ab 1977) ist Alice Schwarzer Inbegriff der deutschen Frauenbewegung.

Manchen gilt sie als Männerhasserin und in den letzten Jahren wird ihr zudem Rassismus vorgeworfen. Wer Alice Schwarzer liest und ihr zuhört, weiß, dass beides nicht stimmt. Wahr ist jedoch: Alice Schwarzer ist kompromisslos, wenn es um die Rechte von Mädchen und Frauen geht. Platituden wie „Das war schon immer so“, „Das ist eben Tradition“, „Das kann man nicht ändern“ lässt sie nie gelten; zu keiner Zeit und in keinem Umfeld. Zum Glück! Denn durch ihre Kompromiss- und Furchtlosigkeit hat sie unglaublich viel für die Gleichberechtigung aller Frauen erreicht. Ich bin ihr sehr dankbar dafür!

Autorin der Woche (09/2021)

Wie Minna Rytisalo wurde auch Selja Ahava 1974 in Finnland geboren. Sie veröffentlichte ihr Debüt 2014: „Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm.“ Während wir durch Rytisalos Lempi erfahren, dass man immer nur einen Teil eines anderen Menschen kennen kann, zeigt uns Ahavas Hauptfigur Anna, was geschieht, wenn ein Mensch auch für sich selbst kein Ganzes mehr ist.

Anna erzählt aus ihrem Leben zu einem Zeitpunkt, an dem dieses für sie nur noch aus Bruchstücken besteht und ihr Denken immer mehr zerfällt, weil die Demenz sie unaufhaltsam bestiehlt. Mit viel Poesie und ohne Kitsch nimmt uns Ahava mit in Annas Leben, bringt uns glückliche Erinnerungen und schmerzhafte. Wir gehen mit Anna bis zum Ende, wo sich das Leben auflöst – und das ist erstaunlicherweise leicht und tröstlich.